Verständnis

III. Ihr Kind braucht Ihr Verständnis

Machen Sie einmal folgendes Gedankenexperiment:

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Beruf, der Ihnen gar nicht liegt, und müssten fast täglich Arbeiten verrichten, mit denen Sie sich nicht auskennen und bei denen Sie bestenfalls zufällig mal etwas richtig machen. Man tuschelt bereits über Sie und Ihr Unvermögen, man beschuldigt Sie, keine Einsatzbereitschaft zu zeigen, man macht sich über Sie lustig, man reagiert genervt, sobald Sie auftauchen und womöglich etwas wissen wollen. Schließlich werden Sie offen der Unfähigkeit bezichtigt.

Völlig klar: Sie fänden die Situation nicht zum Aushalten, würden so bald wie möglich kündigen und sich um eine andere Arbeit bemühen.

In einer vergleichbaren Situation befindet sich ein rechenschwaches Kind in der Schule. Es kann den Anforderungen nicht genügen, es wird von anderen beschuldigt oder gehänselt, seine Situation ist nicht zum Aushalten, aber es kann nicht kündigen. Hier ist Ihr Kind auf Ihr Mitgefühl angewiesen, darauf dass Sie es verstehen, wenn es von seinem Ärger berichtet, über Mitschüler oder Lehrer klagt oder empört ist über ungerechte Behandlung.

Bedenken Sie: Kein rechenschwaches Kind ist schuld an seiner Situation, es leidet selbst am meisten darunter, dass es mathematische Dinge nicht ebenso problemlos versteht wie viele seiner Mitschüler. Wenn dann trotz aller Bemühungen eine 5 unter einer Klassenarbeit steht, womöglich mit dem Zusatz „du musst dich mehr anstrengen!“, dann ist das wie eine Strafe. Aber eine Strafe für was? Das betroffene Kind selbst hat ja gar nichts verbrochen und hat nicht Strafe verdient, sondern Hilfe. Denn es hat ja aus eigener Kraft gar nicht die Möglichkeit, sich aus seinem Unverständnis herauszuarbeiten, sondern ist angewiesen darauf, dass andere ihm Hilfestellungen bieten, die es verstehen kann. Diese Hilfe wiederum findet in der Regel in der Schule nicht statt und je weiter der Schulstoff fortgeschritten ist, umso weniger bietet er dafür überhaupt eine Möglichkeit. Die schlechte Note stellt daher keinen pädagogisch sinnvollen Umgang mit den Lernschwierigkeiten ihres Kindes dar, sie muss ihm als eine große Ungerechtigkeit erscheinen, mit der schwer fertig zu werden ist.

Hier ist Ihr Verhalten wichtig: Achten Sie darauf, dass Sie keinen Ärger und keine Enttäuschung zeigen, wenn Sie Ihre Unterschrift unter eine schlechte Klassenarbeit setzen. Denn das wäre so, als ob Sie Ihr Kind dafür, dass es in der Schule abgestraft wurde, zu Hause noch einmal bestrafen. Sie sollten bewusst gegensteuern und Ihrem Kind erst recht mit Liebe und Verständnis begegnen, wenn es unglücklich mit einer schlechten Note nach Hause kommt. Es ist durchaus erlaubt und kann sehr heilsam sein, wenn Sie gemeinsam mit ihrem Kind auf die Ungerechtigkeiten schimpfen, die vorgekommen sind. Ihr Kind braucht den seelischen Rückhalt bei Ihnen. Es braucht dann, wenn es in der Schule mit einer schlechten Note gewissermaßen verurteilt worden ist, die Sicherheit, dass wenigstens zu Hause jemand auf seiner Seite steht.

Daher ist es auch wichtig, dass Ihr Kind gelobt wird, wo immer sich ein Anlass dazu bietet, auch wenn er noch so nichtig erscheint, und dass es in Schutz genommen wird, wenn andere sich über es lustig machen. Wenn sich Ihr Kind bemüht, wenn es Einsatzbereitschaft zeigt, dann sollte das gewürdigt werden – unabhängig davon, ob es von Erfolg gekrönt ist oder eine gute Note zeitigt.

Achten Sie darauf, dass das Fach Mathematik nicht zum beherrschenden Gesprächsgegenstand wird, bestehen Sie darauf, dass es noch andere Dinge im Leben gibt, die unter Umständen viel wichtiger sind. Ihr Kind wird keinen Beruf anstreben, in dem Mathematik eine große Rolle spielt. Dann ist es aber auch für seinen weiteren Lebensweg entscheidend, dass sich seine anderen Talente weiterentwickeln können. Dafür braucht es Zeit, Gelegenheit und im Zweifelsfall Ihre Förderung. Sorgen Sie dafür, dass möglichst viel von den Dingen die Rede ist, bei denen sich Ihr Kind auskennt und für die es sich interessiert. Ermutigen und unterstützen Sie Ihr Kind in seinen nicht-mathematischen Interessen und Fähigkeiten, so gut es geht. Sie fördern damit seine Entwicklung und könnten so einiges dazu beitragen, sein beschädigtes Selbstwertgefühl zu stabilisieren.

Und verschaffen Sie sich möglichst früh Gewissheit darüber, wie es um die Schwierigkeiten ihres Kindes wirklich bestellt ist.

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