II. Treten Sie Vorurteilen entgegen!
Rechenschwache Kinder, deren Selbstwertgefühl schon genug darunter zu leiden hat, dass sie in einem so wichtigen Fach versagen, werden oft zusätzlich mit dem Vorurteil konfrontiert, sie seien dumm, faul oder unkonzentriert, also im Grunde selbst Schuld daran, dass sie nicht rechnen können.
Eine verhängnisvolle Schuldzuweisung, die nur durch Unkenntnis oder Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen Dyskalkulie erklärlich wird. Verhängnisvoll in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird dem Kind damit ein äußerst ungerechtfertigter Vorwurf gemacht. Es kann ja nun wirklich nichts dafür, dass ihm nicht die spezielle Förderung seines quantitativen Denkens zuteil geworden ist, die es gebraucht hätte. Und zum andern wird ihm damit der Eindruck vermittelt, es sei bereits endgültig abgeschrieben.
Rechenschwache Kinder sind nicht dumm!
Die Ergebnisse, die ein rechenschwaches Kind errechnet, mögen einem flüchtigen Betrachter so erscheinen, als seien sie aus schierer Willkür und purem Zufall entstanden. In der Regel ist das nicht so; meist haben die Fehler Methode.
1. Frank z.B. errechnet Folgendes:
22 + 5 = 9
Er hat sich gemerkt, dass es bei der Addition zweistelliger Zahlen vorteilhaft ist, die Zahlen in ihre Stellen zu zerlegen, die Stellen einzeln zu addieren und dann die Zahl wieder zusammenzusetzen. Das macht Frank aber so:
22 + 5 = 2 + 2 + 5 = 9
Ihm fällt auch gar nicht auf, dass das Ergebnis seiner Addition kleiner ist als der erste Summand, zu dem er ja noch die Zahl 5 hinzuzählen soll. Das Stellenwertsystem muss diesem Jungen ein Buch mit sieben Siegeln sein!
2. Die kleine Sandra und ihre Rechenstrategie sind ein weiteres Beispiel. Sie verrechnet sich hartnäckig um 1. Die Aufgabe 4 + 3 bewältigt sie z.B. folgendermaßen:
Sie fängt mit der linken Hand an und zählt die Finger ab: Erster, zweiter, dritter, vierter Finger. Die „4“ wäre geschafft. Anschließend kommt die „3“ dran, nach derselben Methode, beginnend mit dem vierten Finger, der jetzt der erste ist. Der fünfte Finger ist jetzt der zweite und das gar nicht zufällige Ergebnis lautet „6“.
Sandra, die noch keinen Mengen- und Zahlenbegriff hat, gibt sich große Mühe, trotzdem richtig zu „rechnen“: Mithilfe der Finger und der auswendig gelernten Zahlenreihe passt sie darauf auf, dass ja nichts verloren geht. Sie hat also gar nicht 3 + 4 gerechnet, sondern ihre Finger abgezählt bis zum rechten Daumen, von dem sie weiß, dass der „6“ heißt.
3. Ein drittes Beispiel ist Lothar mit seiner schriftlichen Subtraktion:
72 – 15 = 63
Er hat sich aus dem Unterricht gemerkt, dass immer die kleinere Zahl von der größeren abgezogen wird. Diese Regel wendet er jetzt bei der schriftlichen Subtraktion an. Er schreibt die Zahlen richtig untereinander:
72
– 15
und beginnt richtig mit der Einerstelle. Dort stutzt er: 2 – 5 passt nicht zu der Regel, nach der die kleinere Zahl von der größeren abgezogen werden muss. Damit die Aufgabe passt, stellt er die Ziffern um und rechnet 5 – 2.
Für Lothar war diese Manipulation nötig, damit er die Aufgabe 72 – 15 lösen konnte. Sein gar nicht zufälliges Ergebnis lautet: 63.
Nicht durch Unkonzentriertheit, Gedankenlosigkeit oder Flüchtigkeit entstehen solche Fehler: Vielmehr hat das rechenschwache Kind sehr viel Konzentration und Gedankenarbeit aufgebracht, um die Aufgabe, die es lösen sollte, auch zu lösen. Es hat sich eine persönliche Rechenstrategie – wir nennen das einen subjektiven Algorithmus – zurechtgelegt, um mit der Aufgabe fertig zu werden.
… sie sind auch nicht faul!
Einem Kind, dessen Mengen- und Zahlenbegriff nicht entwickelt ist, nützt die Devise „üben, üben und nochmals üben“ überhaupt nichts. Solange ihm der Begriff der Zahl fehlt, kann es schlechterdings nicht begreifen, was der Sinn von Rechenoperationen ist. Solange bringt auch das Üben keinen Fortschritt in der geistigen Beherrschung von Quantitäten, sondern nur sinn- und zwecklose Quälerei für Eltern und Kinder. Denn es wird ja nur das wiederholt, woran das Kind bisher gescheitert ist.
Bestenfalls wird dabei das trainiert, was das rechenschwache Kind in vielen Fällen schon überdurchschnittlich gut kann: Das Memorieren sinnlos erscheinender Zeichen und Laute und deren willkürlich erscheinender Kombinationen. Denn was für Erwachsene eine ganz normale, einfache Rechenaufgabe ist, z.B. die Addition
7 + 6 = 13,
ist für ein Kind, das Zahlen nicht „versteht“, so verwirrend und undurchschaubar wie die „Rechnung“
§ + & = %*.
Stellen Sie sich einmal die geistige Anstrengung vor, die es kostet, sich Dinge zu merken, von denen man nicht weiß, was sie überhaupt bedeuten!
Manche Kinder lernen fleißig Ergebnisse auswendig. Katrin z.B. hat sich gemerkt, dass bei einer bestimmten Sachaufgabe, bei der sie zunächst „34“ errechnet hatte, auf jeden Fall die Zahl „38“ herauskommen muss. Noch eine Woche später ist sie sich da ganz sicher. Auf die Nachfrage, wie sie denn darauf gekommen sei, antwortet sie lapidar: „Es stand so an der Tafel.“ Den Lösungsweg kann Katrin nicht mehr angeben, gibt sich aber nun große Mühe zu überlegen, wie man die Aufgabe „so rechnen kann, dass 38 rauskommt“. Eine ganze Woche lang hat sich Katrin eine unbegriffene, für sie willkürliche Zahl gemerkt. In dieser Hinsicht sind manche rechenschwachen Kinder geradezu erschreckend fleißig!
Natürlich sind bei einem rechenschwachen Kind häufig auch Symptome zu beobachten, die den Verdacht auf Faulheit zu bestätigen scheinen: Es sitzt deprimiert herum, lässt mutlos den Kopf hängen, drückt sich um die Hausaufgaben, so gut es kann, sitzt dann ewig an den Aufgaben, „ohne sich zu konzentrieren“ und scheint insgesamt träge und faul zu sein.
In Wirklichkeit konzentriert es sich vielleicht doch, nur eben auf etwas anderes. Viele rechenschwache Kinder sind extrem misserfolgsorientiert: Sie haben solche Angst, schon wieder zu versagen, dass sie ihren Kopf für nichts anderes mehr frei haben. Diese „Unkonzentriertheit“ kann Folge einer Dyskalkulie sein.
… sie sind nur verzweifelt und enttäuscht.
Enttäuscht, weil all ihre Bemühungen umsonst waren, und verzweifelt, weil sie nicht wissen, was sie daran ändern können. Dabei befinden sie sich nicht nur subjektiv in einem Dilemma, sondern auch objektiv: Was nützt der gute Wille, richtige Ergebnisse zu liefern und falsche zu vermeiden, wenn gleichzeitig gar nicht klar ist, wie man „richtig“ und „falsch“ unterscheiden kann! Das ständig wiederkehrende Erlebnis des eigenen Unvermögens führt auf die Dauer zur Entmutigung. Die Kinder resignieren und wollen mit „all dem“ von vornherein nichts mehr zu tun haben: „Das kann ich doch nicht!“
Besorgte Eltern werden hier wiederum selbstkritisch und meinen, sie hätten ihre Kinder nur nicht genug gefördert. Wie den meisten Erwachsenen ist ihnen Rechnen eine Selbstverständlichkeit. Sie brauchen sich über den Zusammenhang von Mengen, Zahlen, Zahlenaufbau und Rechenoperationen keine Gedanken mehr zu machen, weil sie den Umgang mit Zahlen beherrschen. Aber genau das macht sie auch blind gegenüber den speziellen Lernproblemen ihres Kindes: Sie begreifen ihrerseits nicht, was mit ihrem Kind eigentlich los ist, warum es nicht rechnet wie sie.
Verschärfend kommt hinzu, dass die häuslichen Übungen für alle Beteiligten Überstunden sind. Nicht nur der Vater hat bereits einen ganzen Arbeitstag hinter sich, ebenso das Kind, das nach der Schule und den anschließenden Hausaufgaben eigentlich dringend ein paar Stunden freie Zeit bräuchte. Da schleicht sich dann leicht Ungeduld ein und nicht selten endet der gut gemeinte Nachhilfeunterricht mit Wutausbrüchen und Tränen.
Für die Selbsteinschätzung des rechenschwachen Kindes hat dies katastrophale Folgen. Nachdem es bereits in der Schule „gelernt“ hat, dass es fürs Rechnen einfach zu dumm ist, bekommt es anschließend durch die häusliche, ihm ganz persönlich gewidmete Rechenstunde die endgültige Bestätigung seiner Minderwertigkeitsgefühle.
Was als Hilfe für das rechenschwache Kind gemeint war, kann so eine Verschärfung der Problematik bewirken.
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