I. Wieso lernt mein Kind nicht rechnen?
Wenn Sie, liebe Eltern, diese verzweifelte Frage stellen, haben Sie und Ihr Kind vermutlich schon einen längeren Leidensweg hinter sich. Hat Ihr Sohn vielleicht schon im Vorschulalter regelmäßig „abgeschaltet“, sobald es um Zahlen ging? Hat Ihre Tochter anfangs gerne gerechnet – und erst die Lust daran verloren, als sich zunehmend weniger Erfolg einstellte?
„Es muss mehr geübt werden!“ –
war doch sicher auch Ihre Schlussfolgerung. Ab sofort wird daher nachmittags regelmäßig gerechnet. Wobei Sie sich natürlich sehr um Geduld bemühen, denn dass die Zeit zum Spielen verkürzt wird, ist ja schon hart genug. Sie rechnen vor, Ihr Kind rechnet nach. Manchmal klappt das auch, dann wieder nicht.
„Das Kind braucht Nachhilfe!“ –
haben Sie sich vielleicht gesagt. Also übt Ihr Sohn zusätzlich mit einem Nachhilfelehrer. Aber was, wenn nach einer Woche oder spätestens nach der nächsten Mathe-Arbeit von all dem, was Ihr Kind eben noch „konnte“, nichts mehr zu merken ist?
„Hat vielleicht die Schule versagt?“ –
werden Sie sich gefragt haben. Die Lehrerin, der Lehrer wehren ab. Ihnen kann man keinen Vorwurf machen, sie haben getan, was sie konnten. Und das stimmt auch: In der 1. Klasse der Grundschule werden schließlich 20 – 30 Kinder zusammengewürfelt, die im Alter noch ziemlich gleich sein mögen, in ihrem Zahlenverständnis hingegen total verschieden. Da gibt es Kinder, die sich im Zahlenraum bis 20 bereits zurechtfinden, und andere, die noch nicht bis 3 zählen können. Niemand, und sei er noch so engagiert, ist in der Lage, ihnen allen gleichzeitig und gleichermaßen gerecht zu werden.
Später schlägt der Lehrer vielleicht Förderunterricht vor. Jetzt gibt es Förderunterricht und Nachhilfeunterricht und zusätzlich wird zu Hause geübt. Klar, dass das eine Quälerei ist, aber was sein muss, muss sein. Ungeduld schleicht sich ein und nicht selten macht sich Verzweiflung breit – auf beiden Seiten:
Aus dem Schulanfänger ist ein echtes Problemkind geworden. Es ist „unkonzentriert, motivationslos und leistungsgehemmt“ – so heißt es jetzt, vielleicht auch noch „verhaltensauffällig und aggressiv“; oder aber ein so genanntes „unauffälliges“ Kind, das verängstigt alles Lernen von vornherein abwehrt: „Das kann ich nicht!“
Was ist in den ersten Schuljahren wirklich passiert?
Hat das Kind denn wirklich nichts gelernt?
Doch, aber kein Rechnen. Vielleicht war Ihr kleiner Junge in seinem Zahlenverständnis noch nicht so weit, als in der Schule mit dem Rechnen begonnen wurde; vielleicht hat Ihre Tochter eine grundlegende Rechenoperation von Anfang an völlig missverstanden und niemand hat es bemerkt. Solche Kinder gehen oft im Klassenverband unter. Und weil ihre Schwierigkeiten unbemerkt bleiben, wird ihr quantitatives Denken nicht gefördert, sondern überfordert. Die Konsequenz: Sie verstehen nichts, der Unterricht geht völlig an ihnen vorbei und sie machen in ihrem Verständnis von Mengen, Zahlen und Rechenoperationen nicht die geringsten Fortschritte.
Rechenschwache Kinder, die ja alles richtig machen wollen, kämpfen zunächst sehr darum, den Anschluss nicht zu verlieren, obwohl sie nicht mitkommen. So mancher Junge lernt möglichst viel von dem, was er nicht versteht, auswendig, damit er im Zweifelsfall die richtige Antwort parat hat und sich nicht blamiert. Weil er auf diese Weise häufig auch zu richtigen Ergebnissen kommt, merkt niemand, dass er in Wirklichkeit gar nicht weiß, was er da tut. Seine Rechenschwäche bleibt unbemerkt.
Er lernt z.B., dass 2 + 2 = 4 ist. 2 • 2 ist auch 4.
Dann ist das „+“ wohl so etwas Ähnliches wie das „•“ – oder?
Warum ist dann 3 + 3 = 6, aber 3 • 3 = 9?
Antwort des Vaters, der fleißig mit seinem Sohn übt: „Weil man hier malnehmen muss.“ Diese Antwort hilft dem rechenschwachen Jungen überhaupt nicht weiter.
Hand aufs Herz: Könnten Sie dem Jungen mehr als das richtige Ergebnis sagen? Könnten Sie ihm dazu noch eine stichhaltige Begründung liefern, sodass er den Zusammenhang von Addition und Multiplikation versteht und so den Unterschied begreifen lernt? Wie lange müssen Sie überlegen?
Mit der Zeit wird der Abstand zwischen dem, was das Kind selber begriffen hat, und dem, was im Unterricht inzwischen dran ist, größer. Schon sind vierstellige Zahlen an der Reihe. Wie schreibt man Tausend? Mit einer 1 und drei Nullen. Warum? Die Mutter sagt: „Weil man das so macht“. Dann soll das Kind die Zahl 1431 schreiben. Es will ja nichts verkehrt machen und schreibt: 1 000 431. Das enttäuschte, entnervte Gesicht der Mutter signalisiert: schon wieder daneben.
Fast jedes rechenschwache Kind gibt dann irgendwann auf. Es kapituliert vor der ihm unerklärlichen Tatsache, dass all seine Bemühungen letztlich fruchtlos bleiben. Wenn dann noch Vorwürfe dazukommen, ist von seinem natürlichen Selbstwertgefühl meist nicht mehr viel übrig. Die lieben Mitschüler, die manchmal recht gnadenlos sein können, tun oft ein Übriges dazu, dass einem rechenschwachen Kind das Fach, in dem es so viel persönliches Versagen erlebt hat, schließlich zutiefst zuwider ist.
Rechenschwache Kinder sind eine Minderheit, der die Institution Schule nicht gerecht werden kann. Sie erhalten dort nicht die spezielle Förderung, die sie bräuchten, weil sich die Schule hinsichtlich Stoff und Lerntempo an der Mehrheit der Schüler orientieren muss.
Häufig genug werden rechenschwache Kinder wegen ihres Leistungsrückstandes im Fach Mathematik insgesamt für dumm erklärt. Und diese Abqualifizierung kann sich dann im Sinne einer „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ zu einer generellen Lernbehinderung auswachsen: Die betroffenen Kinder werden zunehmend durch Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste bestimmt, sehen auch in anderen Fächern nur mehr Anforderungen, die sie nicht erfüllen können, und fallen allgemein in der Schule zurück, d.h. auch in den Fächern, in denen sie bisher durchschnittliche oder gar bessere Leistungen erbracht haben.
So kann eine nicht erkannte und daher auch nicht therapierte Rechenschwäche sehr weitreichende Konsequenzen haben.
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